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Josef und seine Brüder. Gastvorlesung an der Theologischen Fakultät der Universität Erlangen am 8. November 2002

Es war einmal ein Mann, der hatte zwölf Söhne. Ursprünglich waren es wohl nicht zwölf (wir wissen nicht genau, wie viele es waren), aber darauf kommt es nicht an. Unter diesen allen liebte der Vater den Zweitjüngsten (vielleicht war es auch der Jüngste) vor allen anderen; denn er war ein Nachkömmling, der ihm im hohen Alter geboren war, und dazu der Sohn seiner Lieblingsfrau. Auf die einseitige Liebe des Vaters antworteten die älteren Brüder mit schweigendem Haß. Als sich Gelegenheit bot, in den Weidegründen fern ab von Hause, entledigten sie sich des Bruders, indem sie ihn an durchreisende Händler verkauften. Die brachten ihn weit weit weg nach Ägypten. Dort gerät der Knabe als Sklave in das Haus eines vornehmen Mannes. Indessen macht sich die Gemahlin des Hausherrn ihn heran und will ihn verführen. Als er sie zurückweist, verleumdet sie ihn bei ihrem Ehemann. Unschuldig gerät er ins Gefängnis. Zum zweiten Male hat ihn das Schicksal ereilt. Im Kerker beweist er sich als erfolgreicher Traumdeuter, der den Gefangenen ihr Schicksal vorherzusagen weiß. Geraume Zeit später wird der Pharao von schweren Träumen geplagt. Keiner vermag sie zu deuten. Da erinnert sich der Mundschenk an den jungen Sklaven im Gefängnis, der ihm die Zukunft gedeutet hat. Der junge Mann wird herbeigeholt und weiß sogleich, was die Träume des Pharao besagen. Ganz Ägypten wird durch seine Hilfe vor einer Hungersnot bewahrt. Der Pharao erhebt ihn zum zweiten Mann im Reich und gibt ihm die Tochter des Priesters von Heliopolis zur Frau.

Das war ein Fehler: Es hätte des Königs Töchterlein selbst sein sollen. Gleichwohl erkennen wir sofort, welche Art Erzählung wir vor uns haben - und wissen, warum gerade diese biblische Geschichte bei Kindern jeglichen Alters beliebt ist: Die Josefsgeschichte ist in ihrem Kern ein gattungsreines Märchen.

Kennzeichnend für die Reinheit der Gattung ist das “Sichvonselbstmachen” der Form. Man könnte an beliebiger Stelle innehalten, von der Vorlage abweichen und auf eigene Faust weitererzählen, der Faden würde sich ohne weiteres fortspinnen lassen. Es würde immer annähernd derselbe Handlungsablauf entstehen. Der Jüngste, im Leben benachteiligt und durch schlimmes, ungerechtes Schicksal geführt, erhält zuletzt das halbe Königreich und die Prinzessin.

Was ist ein Märchen? Die möglichen Definitionen sind vielfältig. Mir hat am meisten die enge Gattungsbestimmung von André Jolles eingeleuchtet. Nach ihm findet im Märchen die “Erwartung, wie es eigentlich in der Welt zugehen müßte” ihre erzählte Gestalt. Ein Müller hatte drei Söhne. Als er starb, bekam der älteste die Mühle, der zweite den Esel und der jüngste den Kater. Das ist ungerecht. Das Märchen erzählt nun, wie “gerade dieses Wertlose, der Kater, das Mittel zum Ausgleich wird, und daß zuletzt das Glück des Benachteiligten das Glück seiner Brüder um soviel übertrifft, als es zu Anfang geringer war.” Das Märchen ist die Aufhebung der als ungerecht erfahrenen und im Sinne des naiven Verlangens nach Gerechtigkeit unmoralischen Wirklichkeit in Gestalt einer Erzählung. Man kann auch sagen: Das Märchen ist ein kompensierender Wunschtraum. “Mit Vorliebe werden Zustände und Ereignisse gewählt, die unserm Empfinden des gerechten Geschehens widersprechen: ein Knabe erbt weniger als seine Brüder, ist kleiner, dümmer als seine Umgebung; Kinder werden von armen Eltern ausgesetzt oder von Stiefeltern mißhandelt; ... Menschen geraten in die Gewalt böser Unholde, sie haben unmenschlich schwere Aufgaben zu erfüllen, sie müssen fliehen, werden verfolgt - aber immer wird das alles im Laufe des Geschehens aufgehoben, kommt es zu einem Ende, das unserm Empfinden des gerechten Geschehens entspricht.” Bemerkenswert ist, wie das Märchen sich auf das individuelle Geschick beschränkt und in den Rollenverhältnissen der Familie seinen häufigsten Anlaß hat: der Benachteiligung unter Geschwistern, der einseitigen Liebe des Vaters, dem Haß der bösen Stiefmutter.

Das Mittel des gerechten Ausgleichs ist eine phantastische Gegenwelt, die der Erfahrungswirklichkeit geradewegs entgegengesetzt ist. “Die Örtlichkeit liegt ‘in einem fernen Lande, weit, weit von hier’, die Zeit ist ‘lange lange her’; oder der Ort ist nirgends und überall, die Zeit nie und immer.” In dieser Wunschwelt wird die wirklichkeitsbestimmende Macht der Erfahrung bestritten, geradezu vernichtet. Das geschieht durch “das scheinbare Paradoxon, das die eigentliche Grundlage des Märchens bildet: das Wunderbare ist in dieser Form nicht wunderbar, sondern selbstverständlich.” Es ist selbstverständlich, daß die Tiere sprechen, daß jedes Kunststück gelingt, daß der Tod keine Macht hat. “Es ist nicht wunderbar, daß die ärmlich gekleidete Aschenbrödel die schönsten Kleider bekommt oder daß die sieben Geißlein wieder aus dem Bauche des Wolfes hervorgehen, es ist das, was wir erwarten”. Es ist auch das, was wir erwarten, wenn Josef von seinen Brüdern verkauft und nach Ägypten verschleppt wird: Es kann gar nicht anders sein, als daß er in der Gegenwelt “weit weit von hier” zum zweiten Mann nach dem Pharao aufsteigt.

Der gattungskritische Beweis ist so eindeutig, daß es keiner weiteren Analogie bedarf. Zum Überfluß ist sie vorhanden. Das ägyptische Märchen von den zwei Brüdern, das in einer Abschrift aus der Zeit der 19. Dynastie auf uns gekommen ist, beginnt so: Ein jüngerer Bruder, Bata mit Namen, lebt bei seinem älteren Bruder Anubis und dessen Frau. Die Brüder bestellen nach dem Absinken der jährlichen Nilflut das Feld. Als ihnen das Saatgut ausgeht, schickt der ältere den jüngeren nach Hause, um weiteres Korn zu holen. Mit drei Sack Emmer und zwei Sack Gerste beladen will er aufbrechen, als die Frau des Bruders, die gerade frisiert wird, seine Stärke bemerkt, ihn umarmt und mit ihm ins Bett will. Erschrocken wehrt Bata sie ab und geht mit seiner Last davon. Die Frau aber, die die Entdeckung fürchtet, zerzaust ihre Frisur und gibt sich, als wäre sie mit Not einer Vergewaltigung entgangen. So verleumdet sie Bata bei seinem älteren Bruder. Der will ihn unverzüglich umbringen. Bata kann fliehen, da seine sprechenden Kühe ihn warnen. Der Sonnengott Re trennt die beiden Brüder durch einen Krokodilgraben. Am nächsten Morgen kommt es zu einem Redewechsel, bei dem Anubis die Wahrheit erfährt. Er tötet die ungetreue Frau und trauert um seinen Bruder, der in das Tal der Zeder davongeht.

Die Übereinstimmung mit der Szene von Potiphars Weib ist immer aufgefallen. Sie wird nicht dadurch relativiert, daß das ägyptische Brüdermärchen auch eine südarabische Parallele hat. Das Motiv von der Beschuldigung durch die enttäuschte Verführerin ist verbreitet und beispielsweise aus der griechischen Sage von Bellerophontes oder von Hippolytos und Phädra bekannt. Man erkennt leicht, daß die Szene in der Josefsgeschichte kein selbständiger Stoff ist: Die Verleumdung wird nicht aufgedeckt, wie man erwarten muß. Von der Bestrafung der Frau hört man nichts. Auch müßte Josef von rechts wegen die Todesstrafe drohen. Die Szene ist nicht auskomponiert. Sie ist lediglich ein Zwischenglied.

Als solches Zwischenglied ist sie freilich unerläßlich, zumal die Verdoppelung von Josefs Unglück die erzählerische Dramatik beträchtlich erhöht. Nur durch den Verführungsversuch gerät Josef ins Gefängnis, nur durch die Traumdeutungen im Gefängnis bereitet sich seine Karriere als Retter Ägyptens vor. So bestätigt die Abhängigkeit von einem offenkundigen Märchenstoff die Gattungsbestimmung des Ganzen.

II

Mit dieser Skizze habe ich bisher nur die Anfänge des literarischen Werdens der Josefsgeschichte beschrieben. Wo wir sie historisch suchen sollen, ist kaum mehr zu sagen. Dieser Mangel muß uns aber nicht kümmern. Es ist die Natur des Märchens, daß das Geschehen nicht datierbar ist. “Der Ort ist nirgends und überall, die Zeit nie und immer.” Das Land Ägypten in der Josefsgeschichte ist eine Art israelitisches Phantasia. Versuche, die Einzelheiten historisch zu verifizieren, mögen im Einzelfall Erfolg haben - im Ganzen mißachten sie die Regeln der Gattung. Da das Märchen die Stellung des Individuums in der Familie behandelt, ist dort der Sitz im Leben zu suchen. Literarisch werden konnte er aber nur in dem kleinen Zirkel der Schreibkundigen, also bei Hofe. Es ist wahrscheinlich, daß man dort auch Erzählungen wie das ägyptische Brüdermärchen als Bildungsgut gekannt hat.

Ich möchte Sie nun mitnehmen auf eine Reise durch die literarische Geschichte, in der sich diese Erzählung im Buche Genesis entwickelt hat. Doch will ich für diesmal nur an einigen wichtigeren Stationen verweilen. Tatsächlich ist die abzufahrende Strecke lang und kurvenreich. Man könnte an jeder Milchkanne anhalten und einen weiteren Vortrag beginnen.

Die erste Station: Es liegt in der Natur des Märchens, daß es sich aufs schönste weiter ausgestalten läßt. Das “Sichvonselbstmachen” kommt zu keinem wirklichen Ende. Motivkombinationen sind üblich. So ist auch die Josefsgeschichte schon bald ausgestaltet worden. Zu dieser Bearbeitung gehören die Träume Josefs. Daß der Handlungsfaden zu Beginn erweitert worden ist, wurde gern als Hinweis auf zwei Quellen gedeutet. Man kann an der Art der Einbindung sehen, daß der vermeintliche Parallelfaden in Wahrheit eine Ergänzung ist. Bedeutungsvolle Zeichen, die das Schicksal des Helden voraussagen, sind ein beliebtes Mittel, die Spannung zu erhöhen. Bei Josef ist es nicht das Orakel der guten Fee über der Wiege; stattdessen träumt die Hauptperson ihr späteres Geschick. Die Brüder reagieren mit schweigendem Haß. Ganz märchentypisch ist, wie der Versuch, das Angesagte zu vereiteln, es gerade dadurch in die Wege leitet.

Die Bosheit der Brüder wird verschlimmert. Bevor sie Josef verkaufen, fassen sie den Vorsatz, ihn umzubringen (der dann allerdings ins Leere geht). Dazu werfen sie ihn in eine Zisterne. Den alten Vater betrügen sie mit dem blutigen Rock. Am Ende aber wird auch unsere Genugtuung gesteigert, wenn dieser zweite Erzähler die Brüder nach Josefs Erhöhung wieder zusammenführt, indem er die Hungersnot Ägyptens auf das Land Kanaan ausdehnt. Der Vater schickt seine verbliebenen Söhne nach Ägypten, um Korn zu erwerben. Genau wie die beiden Stiefschwestern das Aschenbrödel in seinem Glanz nicht erkennen, sind auch die Augen der Brüder gehalten. Hart prüft sie Josef. Endlich kann er nicht mehr an sich halten und gibt sich ihnen zu erkennen. So gelingt die Versöhnung. Der schweigende Haß weicht dem brüderlichen Gespräch. Auch der Vater wird einbezogen, den die Brüder zu Anfang getäuscht haben. Jetzt bringen sie ihm die Nachricht: “Josef lebt”. All das bleibt noch immer im Rahmen des Märchens, nur daß sich das Augenmerk vom Schicksal der Hauptperson auf die Familienbeziehungen verlagert hat.

III

Die zweite Station: Daß die Josefsgeschichte der Gattung des Märchens angehört, ist sonnenklar und hat doch in der Exegese einen schweren Stand. Der Vorbehalt mag einmal daran liegen, daß das Märchen als Inbegriff einer unwahren, erfundenen Geschichte gilt. Eine solche will man der Bibel nicht zuschreiben. Die Bibel ist kein Märchenbuch. Aber es gibt noch einen tieferen, und zwar theologischen Grund. Wir hatten gesagt, daß dem Märchens eigentümlich ist, daß es die als ungerecht und unmoralisch empfundene Erfahrungswelt durch eine Gegenwelt aufhebt, in der das Wunderbare das Selbstverständliche ist. Das Unrecht korrigiert sich in der Wunschphantasie von selbst. Bedingung ist, daß das Märchen die Bodenhaftung aufgibt. Hingegen hat der Glaube es zwar auch mit dem Wunderbaren zu tun, aber er verliert dabei die Bodenhaftung nicht. Das Wunderbare erscheint ihm als Begebenheit der wirklichen Welt. Es bedeutet eine spektakuläre Durchbrechung der Gebundenheit an Kausalität und Schicksal. Deshalb ist, was im Märchen selbstverständlich ist, für den Glauben ein „Ereignis von eindringlicher Bedeutung“.

Mit diesem Begriff mache ich erneut eine Anlehnung bei André Jolles. Jolles entwickelt die Eigenheiten des Märchens im Gegenüber zu einer anderen Gattung: der Novelle. Hören wir seine Definition dieser Gattung: Die Novelle ist “bestrebt ..., eine Begebenheit oder ein Ereignis von eindringlicher Bedeutung in einer Weise zu erzählen, die uns den Eindruck eines tatsächlichen Geschehens gibt und zwar so, daß uns dieses Ereignis selbst wichtiger erscheint als die Personen, die es erleben.” Um erzählt zu werden, muß ein Ereignis in dieser Gattung nicht wunderbar, sondern eindringlich und bemerkenswert sein. Diese Eindringlichkeit steht in Bezug zu der Tatsächlichkeit des Geschehens. Die Novelle spielt nicht in der Gegenwelt, sondern schildert uns, wie es in der Welt zugeht. Das ist es, was unsere  Aufmerksamkeit stimuliert, wenn wir zuhören. Wir identifizieren uns mit den handelnden Personen, weil das bemerkenswerte Ereignis so oder ähnlich auch uns widerfahren könnte. Sie können das von Boccaccio bis Kleist oder Hebel oder Keller ohne weiteres verifizieren.

Tatsächlich bestimmen die Exegeten die Josefsgeschichte in der Regel als “Novelle”. Der Grund ist aber vor allem ein äußerlicher: der Umfang. Während die Vätererzählungen Einzelstücke sind, die mit einfachen Stichen vernäht wurden, besteht die Josefsgeschichte aus einer Kette von Szenen, die nur gemeinsam den notwendigen Handlungsbogen ergeben. Folgen wir Jolles, gibt es aber auch einen tieferen Grund, die Josefsgeschichte eine Novelle zu nennen: ihren Wirklichkeitsbezug, und das heißt für uns: ihren Gottesbezug. In der Josefsgeschichte, wie wir sie heute lesen, ist das Wunderbare vom Selbstverständlichen zum Ereignis von eindringlicher Bedeutung geworden. Das Merkmal des Märchens hat sich in das Merkmal der Novelle verwandelt. Das geschah durch das Eingreifen Gottes.

Der Gattungswandel zeigt sich, sobald Josef in Ägypten eingetroffen ist: “Und Jahwe war mit Josef, und er war ein Mann mit glücklicher Hand. Und er war im Hause seines ägyptischen Herrn. Da sah sein Herr, daß Jahwe mit ihm war, und daß Jahwe alles, was er tat, in seiner Hand gelingen ließ. Und Josef fand Gnade in seinen Augen und bediente ihn.” Die Märchen-Karriere, die sich hier anbahnt, geschieht nicht mehr von selbst, sondern wird auf Jahwes Beistand zurückgeführt. Man kann leicht zeigen, wie dieser Akzent literarisch nachgetragen ist. Das Eingreifen Gottes wiederholt sich, als Josef ins Gefängnis gerät, und ist hier noch deutlicher als nachträglicher Akzent zu erkennen, weil es dem Lauf des Geschehens gänzlich widerspricht. Statt ins Elend gerät Josef in die Gottesnähe. Er erlebt sogar eine gewisse Karriere: “Und Jahwe war mit Josef und neigte ihm Gunst zu und gab ihm Gnade in den Augen des Aufsehers des Gefängnisses. Und der Aufseher des Gefängnisses gab alle Gefangenen, die im Gefängnis waren, in die Hand Josefs. Und alles, was sie dort taten, er war es, der es tat. Der Aufseher des Gefängnisses sah nach gar nichts mehr in seiner Hand, weil Jahwe mit ihm war. Und was er tat, ließ Jahwe gelingen.”

Diesmal können wir recht genau bestimmen, wann und wo das geschrieben worden ist. Es fällt auf, mit welcher penetranten Häufigkeit der Bearbeiter unterstreicht, daß Jahwe “mit Josef" gewesen sei. Ist nicht die Gegenwart Jahwes, sein wirkkräftiges Dasein für den Menschen, eine Selbstverständlichkeit, die mit der Gottesvorstellung an sich gegeben ist? Offenbar setzt der Bearbeiter diese Selbstverständlichkeit bei seinen Lesern nicht voraus. Warum, ist leicht einzusehen. Wenn das Mit-Sein Jahwes zur betonten Besonderheit wird, so kann das nur daran liegen, daß Josef sich jetzt in Ägypten, in der Fremde befindet. Demnach geht der Bearbeiter von der in der Antike üblichen Vorstellung aus, daß die Wirksamkeit eines Gottes an eine bestimmte Örtlichkeit gebunden ist: An den Umkreis eines Heiligtums, an den Herrschaftsbereich eines Königtums, an den Wohnsitz einer Ethnie. Diese Vorstellung will er überwinden. Das tut er mit der übertriebenen Deutlichkeit dessen, der etwas Neues lehrt. Er zeigt, daß Josef, von den Ismaelitern verschleppt, auch in der Fremde nicht von Jahwe verlassen ist. An die Stelle der territorialen setzt er die personale Bindung Jahwes und damit zugleich dessen Ubiquität (die uns modernen Theologen derart geläufig ist, daß wir die Sensation des Textes erst auf den zweiten Blick bemerken). Jahwe ist für ihn nicht mehr nur der Gott des Landes Israel und Juda und der Gott seines dort wohnenden Volkes, sondern der Gott des einzelnen, der, wohin auch immer, mitgeht. Für die religionsgeschichtliche Einordnung ist überaus wichtig, daß dieser Gott seine Beweglichkeit neu erlangt hat. Er ist nicht der immer schon mitgehende Gott einer vorgeschichtlichen Nomadenschar, der sekundär in Palästina seßhaft geworden wäre, sondern der Landesgott Palästinas, dem sekundär eine weltweite Wirksphäre zuwächst. Warum, läßt sich leicht raten: Seine Anhänger mußten wie Josef ins Exil gehen!

Interessant ist, daß die a-moralische Haltung des Märchens bestehen bleibt. Josef erfährt die segensvolle Gegenwart Jahwes ohne eigene Beteiligung, ohne sie zu ersehnen oder erstaunt zur Kenntnis zu nehmen, ohne sie zu verdienen oder ihr im Gehorsam zu entsprechen. Er ist, religiös gesehen, ein bloßer Statist. Augenscheinlich geht es dem Bearbeiter nicht um Josef, sondern um Jahwe, um Jahwes Beziehung zum Menschen, nicht um die Beziehung des Menschen zu Gott. Vom Menschenverhältnis Jahwes will er zeigen, daß es die Grenzen des Landes übergreift. Dabei bewirkt der Gott auch in der Fremde lediglich das, was seines Amtes ist: Er verleiht Josef Gunst bei seinem Herrn. Er gibt ihm Erfolg. Er segnet das Josef anvertraute Eigentum des Ägypters. In dieser Schilderung ist zugleich ein apologetischer Zug zu erkennen. Jahwes Mit-Sein wird in Erfolg und Segen an dem ihm zugehörenden Menschen sichtbar. Es ist der Ägypter, der das feststellt und als Außenstehener sozusagen die Objektivität des Vorgangs verbürgt. Er macht sich Jahwes Segenswirksamkeit zunutze, indem er Josef zum Verwalter seines Vermögens einsetzt.

Die Apologetik macht deutlich, daß auf der Identität von Josefs Gott das Gewicht liegt. Es geht nicht um irgendeinen, sondern um einen ganz bestimmten Gott, der in der ihm ursprünglich fremden Sphäre seine Wirkmächtigkeit unter Beweis stellt. Der Bearbeiter nennt ihn darum stets bei Namen, er schreibt „Jahwe“, nicht weniger als achtmal hintereinander. Das ist um so auffallender, als der Gottesname in der ganzen übrigen Josefsgeschichte fehlt.

Die Exegeten haben schon früher bemerkt, daß an Josefs ägyptischem Herrn die berühmte Verheißung in Erfüllung geht, die Abraham zu Beginn seiner Wanderung von Jahwe empfangen hat: “Ich will dich segnen und will deinen Namen groß machen, so daß du ein Segen wirst. Ich will segnen, die dich segnen; wer dich aber schmäht, den will ich verfluchen. Und in dir werden gesegnet werden alle Geschlechter des Erdbodens.” In der klassischen Exegese wird diese Verheißung dem Jahwisten zugewiesen, jener älteren der beiden Tetrateuch-Quellenschriften, die erstmals den durchgehenden literarischen Zusammenhang von Urgeschichte, Vätergeschichte, Josefsgeschichte, Exodusgeschichte und Wüstenwanderung komponiert hat. Allerdings unterscheidet sich die Größe, die wir im Text finden, erheblich von dem, was in den Lehrbüchern steht. Dieser Jahwist ist kein Erzähler gewesen, sondern, wie man am Beispiel sehen kann, ein Bearbeiter vorgegebener literarischer Quellen. Da er diese Quellen zugleich ausgewählt, angeordnet und kommentierend untereinander verbunden hat, kann man ihn einen Redaktor nennen.

An der Gestalt des Josef läßt sich der historischen Ort dieser Redaktion  erkennen. Josef tritt als der einzelne Jahwe-Verehrer auf, der durch ein widriges Geschick in die Fremde geraten ist. Er ist der Prototyp der infolge des babylonischen Exils in die Zerstreuung geratenen Judäer. Man hat die Josefsgeschichte mit gutem Grund eine “Diasporanovelle” genannt. Sie ist das allerdings, wie wir sehen, nicht von Anfang an gewesen. Erst der Jahwist als Redaktor in der Exilszeit hat sie dazu gemacht.

IV

Die dritte Station: Für die Novelle hatten wir festgestellt, daß uns das eindrückliche Ereignis, das sie schildert, wichtiger erscheint als die Personen, die es erleben. Josef ist in ihrem Rahmen nicht als Person von Bedeutung, sondern als Beispiel, mit dem der Leser sich identifizieren soll, um auf diese Weise der Führung Jahwes in seinem eigenen Leben innezuwerden. Die Josefsgeschichte hat insoweit eine paradigmatische Pointe: Sie ist eine Beispielerzählung.

Zweifellos ist damit aber wiederum nur ein Teilaspekt erfaßt. Denn die heutige Josefsgeschichte hat mindestens ebensosehr eine ätiologische Pointe. Sie ist ein Abschnitt der großen Ursprungsgeschichte des Gottesvolkes Israel. Unter dieser Voraussetzung ist die Identität der handelnden Personen keineswegs gleichgültig. Auf sie kommt es vielmehr besonders an.

Die heutige Josefsgeschichte erzählt, wie es kam, daß die Söhne Jakobs und mit ihnen die Stämme Israels nach Ägypten übersiedelten, so daß sie von dort ein zweitesmal nach Palästina einwandern konnten, in jenes Verheißungsland, das ihre Väter Abraham, Isaak und Jakob schon bewohnt hatten. Der Exodus wird als Heimkehr dargestellt. Damit das möglich wird, ist die Josefsgeschichte als Bindeglied zwischen Vätergeschichte und Exodusgeschichte unerläßlich. Ohne sie würde der literarische Zusammenhang zerfallen. Ihre Funktion als literarische Klammer ist dermaßen evident, daß die Hypothese aufkommen konnte, die Josefsgeschichte sei als solches Zwischenglied erst entstanden. Das ist, wie ich nicht mehr begründen muß, eine Sünde wider den Stoff. Hilfsweise kann man vermuten, die Josefsgeschichte sei an die Stelle eines Textes getreten, der ursprünglich auf andere, kürzere Weise die Übersiedlung der Israeliten nach Ägypten berichtet habe.

Diese Null-Größe erübrigt sich, wenn man sieht, daß die Josefsgeschichte erst nachträglich um die Wanderung nach Ägypten ergänzt worden ist. Die Wiederbegegnung der Brüder mit Josef hat das nicht notwendig zur Folge. Die Übersiedlung wird mit einem eigenen Befehl eingeleitet, den Josef den Brüdern nach der Versöhnung erteilt: “Eilt und zieht hinauf zu meinem Vater und sprecht zu ihm: So spricht dein Sohn Josef: Komm herab zu mir, verweile nicht, du und deine Söhne und deine Enkel und dein Kleinvieh und dein Großvieh und alles, was du hast.”

Voraussetzung dieses Erzählzuges ist, daß Josef, sein Vater Jakob und seine Brüder zu Repräsentanten des Volkes Israel geworden sind. Das waren sie, entgegen einer verbreiteten Deutung der Vätergeschichte, keineswegs von vornherein. Nicht nur das Josef-Märchen und die Diasporanovelle haben es ihrer Natur nach mit Einzelpersonen zu tun. Auch die vorangehenden Vätererzählungen sind ihrer Wurzel nach Familiengeschichten. Ihre Träger sind Individuen, keine personalisierten Stämme. Das ist bei unvoreingenommener Betrachtung leicht zu sehen. Erst nachträglich ist Jakob zu Israel und Esau zu Edom geworden. Auch einen Stamm “Josef” kann man in der Geschichte Israels lange suchen: Es gibt ihn nicht. Erst in spätesten Zusammenhängen findet sich der Begriff “Haus Josef” - als Chiffre für das ehemalige Nordreich. Die Ursprünge der Josefsgeschichte als Reflex stammesgeschichtlicher Vorgänge zu erklären, ist ein Mißgriff gewesen.

Anders als bei Josef steht es mit Efraim und Manasse. Sie sind historische Größen: Manasse ein Stamm, Efraim eine Landschaft. Aber beide wurden erst nachträglich zu Söhnen Josefs erklärt. Entsprechendes gilt für Levi, Juda, Benjamin, die in der Genesis Söhne Jakob-Israels sind. Von den sechs “Stämmen” Issachar, Sebulon, Dan, Naftali, Gad/Gilead und Asser nicht zu reden, die nur in Listen vorkommen, also keine Erzählgrößen sind.

Unbestritten hat die heutige Josefsgeschichte diesen stämmegeschichtlichen, man kann sagen: nationalätiologischen Sinn. Sie bildet den Handlungsrahmen, innerhalb dessen aus den Söhnen Jakobs das Volk Israel heranwächst, das dann im Buche Exodus aus Ägypten ziehen wird. Der Pharao weist den Israeliten ihre Siedlungsgründe an. Jakob/Israel aber nimmt am Ende seines Lebens die Rolle des integrierenden Patriarchen ein, der seinen Nachkommen, zuerst Ephraim und Manasse, dann den zwölf Söhnen, den Segen erteilt. All dies erklärt aber weder den Ursprung der Erzählung, noch gibt es historische Vorgänge wieder. Vielmehr reflektiert es den Horizont der spätnachexilischen jüdischen Gemeinde, die sich ihre Geschichte als Genealogie vergegenwärtigt hat, wie man am deutlichsten im Buche Numeri sowie im chronistischen Geschichtswerk sieht.

V

Die vierte und für heute letzte Station: Die Josefsgeschichte ist bei dieser nationalgeschichtlichen Lesart nicht stehen geblieben. Jene Szenen, die uns Heutige besonders anrühren, betreffen das Verhältnis der Brüder, die nunmehr zwar Ruben, Juda, Simeon und Benjamin heißen, also mit den Stämmen Israels benannt sind, aber wiederum, und also sekundär, als Individuen auftreten. Auf dieser Ebene geht es wieder, wie in dem ursprünglichen Märchen, um die ausgleichende Gerechtigkeit, nun aber nicht mehr unter den Prämissen der naiven Moral, sondern im tief religiösen Sinne. Die Irrungen und Wirrungen des menschlichen Schicksals spielen sich ab vor dem Auge Gottes und werden gerade dadurch für alle Zeit zum Paradigma des Humanen. Josef, der Held, nimmt dabei zunehmend die Züge des Zaddiq, des jüdischen Gerechten an. Damit zusammen hängt seine Schilderung als Weiser, ja als Prophet. Weisheit und (Tora-)gerechtigkeit, Toralehre und Prophetie sind für die spätalttestamentliche Frömmigkeit ein und dasselbe. Ihre besondere Brisanz erhält die Erzählung dadurch, daß die Brüder ebenfalls Repräsentanten des Gottesvolkes sind, also tendenziell Gerechte. Weder ging es an, ihr Verbrechen ungestraft zu lassen, noch sie für immer den Frevlern zuzuordnen. So kam es zu den Szenen der Sühne, aber auch zu jener Lösung, die Gott selbst die Schuld in die Schuhe schiebt, der die Tat der Brüder für seine höheren Ziele benutzt hat.

Auf diese Ebene gehören jene Erzählzüge, die man in der neueren Urkundenhypothese dem sogenannten Elohisten zugewiesen hat. Tatsächlich sind sie jünger als die Verbindung von Jahwist und Priesterschrift und bilden, um es in Erlanger Begriffen auszudrücken, ein noch ungeschriebenes Kapitel in Ludwig Schmidts schönem Buch “De Deo”.

Betrachten wir zunächst Josef. Die spätalttestamentliche Frömmigkeit, die von der Prämisse der absoluten Gerechtigkeit Gottes überzeugt war, stand bei ihm vor der dringenden Frage, ob sein schlimmes Geschick nicht in einer Schuld seine Ursache hatte. Möglicherweise soll der zweite, nochmals nachgetragene Traum, der mit Recht des Vaters Zorn erregt, eine solche Schuld andeuten: “Siehe, die Sonne und der Mond und elf Sterne fielen vor mir nieder.” Das ist Hochmut vor dem Fall, der das Problem des Falls immerhin mildert. Sobald Josef in Ägypten angekommen ist, die Ergänzer indessen nicht müde, seine standhafte Gerechtigkeit hervorzuheben. Besonders geeignet dafür ist die Verführungsszene. Unterstrichen wird, daß Josef die Gelegenheit zur Sünde gehabt hätte: Sein Herr “überließ alles, was er hatte, der Hand Josefs und kümmerte sich neben ihm um nichts als das Brot, das er aß.” Der einmalige Verführungsversuch der lüsternen Ägypterin wird vervielfältigt: “Und sie bedrängte Josef mit solchen Worten täglich.” Josef aber hält ihr eine Predigt: “Wie sollte ich ein solch großes Übel tun und gegen Gott sündigen.” Man muß kaum erwähnen, daß das mögliche Delikt nun auch im Wortlaut auf das betreffende Toraverbot aus Dtn 22 bezogen ist. Den Gefangenen im Kerker erklärt Josef sein Geschick: “Ich bin aus dem Lande der Hebräer gestohlen worden. Und auch hier habe ich nichts getan, weshalb sie mich in die Grube gesetzt haben.”

Neben Josefs Gerechtigkeit steht seine Weisheit. Sie ist nun nicht mehr die Wunderkraft des Märchenkindes, sondern eine Gottesgabe, die ihrerseits die besondere Nähe Josefs zu Gott belegt. Das gibt der Protagonist anläßlich der Traumdeutungen dem Bäcker, dem Mundschenk und dem Pharao, in Wahrheit aber dem Leser zu verstehen: “Ist nicht Auslegen Angelegenheit Gottes?” “Gott wird dem Pharao Heil verkünden.” “Gott verkündet dem Pharao, was er plant.” “Daß aber dem Pharao zweimal geträumt hat, bedeutet, daß Gott dies gewiß und eilends tun wird.” Der Pharao antwortet: “Wie könnten wir einen Mann finden, in dem der Geist Gottes ist wie in diesem?” “Weil dir Gott dies alles kundgetan hat, ist keiner so verständig und weise wie du.” Gegenüber den Brüdern charakterisiert Josef sich selbst: “Ich fürchte Gott.” Das ist nicht das Ideal der höfischen Weisheit, wie man gedacht hat, sondern der jüdischen Frömmigkeit.

Und nun die Brüder. Zuerst Juda. Er ist in einer älteren Fassung, die noch nicht das Zwölfstämmesystem mit Ruben als dem Ältesten kennt, der Sprecher. Aus seinem Munde vernehmen wir eine Deutung, die die Untat dadurch bagatellisiert, daß sie sie als Verhinderung von Schlimmerem ausgibt: “Da sprach Juda zu seinen Brüdern: Was gewinnen wir, wenn wir unseren Bruder umbringen und sein Blut bedecken? Kommt, wir wollen ihn an die Ismaeliter verkaufen, aber nicht Hand an ihn legen. Denn er ist unser Bruder, unser Fleisch. Und seine Brüder gehorchten.”

Derselbe Gedanke wird später von Ruben zugespitzt. Diesmal wird nicht der Verkauf an die Ismaeliter als Rettung vom Tode gedeutet, sondern daß Josef in die Grube geworfen worden ist: “Vergießt nicht Blut, sondern werft ihn in diese Zisterne hier, die in der Wüste ist, aber legt nicht Hand an ihn.” Das wird damit erklärt, daß Ruben Josef erretten und seinem Vater wiederbringen wollte. Sein Plan wird durch unglücklichen Zufall zunichte. Umherschweifende Midianiter, jene unversehens auftretenden und verschwindenden Räuber, die aus Ri 6-8 bekannt sind, ziehen Josef aus der Grube, und nunmehr stellt sich der Ablauf so dar, daß die Midianiter es sind, die Josef an die Ismaeliter verkaufen. Als Ruben die leere Grube bemerkt, befällt ihn Entsetzen. Sofort teilt er sein schreckliches Wissen mit den Brüdern. Es geht nicht darum, Ruben die Rolle des moralischen Helden zuzuschreiben, sondern durch ihn als den Ältesten den Makel des Verbrechens von sämtlichen Brüdern zu löschen. Das wird an Jakobs Trauer noch verdeutlicht. Alle Söhne und alle Töchter treten auf, um den Patriarchen zu trösten. Sie können dies redlichen Herzens; denn sie sind selbst von dem tragischen Zufall betroffen, der ihnen den Bruder geraubt hat. Josef selbst bestätigt diese Lesart, wenn er dem Mundschenk des Pharao erzählt: “Ich bin aus dem Lande der Hebräer gestohlen worden.”

Die Schuld der Brüder wird durch solche Rettungsversuche nicht ungeschehen. Deshalb müssen sie bestraft werden. Sie werden von Josef hart geängstet. Ebenso wie Josef ins Gefängnis geriet, muß nun Simeon in Gefangenschaft. “Sie sprachen aber untereinander: Das haben wir an unserem Bruder verschuldet! Denn wir sahen die Angst seiner Seele, als er uns anflehte, und wir wollten ihn nicht erhören; darum kommt nun diese Trübsal über uns.” Als sie auf der Heimreise das Geld in den Säcken entdecken, reagieren die Brüder mit blankem Entsetzen: “Was hat Gott uns angetan!” Sie sehen das Geschehen von ihrer Schuld bestimmt.

Schließlich Benjamin: Er erscheint in der heutigen Josefsgeschichte wie eine zweite Hauptperson. Die ursprüngliche Fassung hat ihn gar nicht gekannt. Jakob läßt ihn beim erstenmal nicht mit den Brüdern ziehen. Seine ängstliche Sorge um den zweiten Sohn der Rahel bereitet das Feld für Josefs Forderung, Benjamin mitzubringen. Als Brüder nach der Rückkehr ihrem Vater von der harten Reaktion Josefs berichten, weigert sich Jakob, die Forderung zu erfüllen. Die Brüder sind in der Falle. Sie werden am Schicksal des zweiten Rahel-Sohnes mit ihrer Schuld konfrontiert.

Das spitzt sich zu in der Becher-Szene: Da Ruben für Benjamin bürgt, darf der Jüngste schließlich doch mitreisen. Doch nun wiederholt sich mit anderem Requisit und allein auf Benjamin bezogen die Szene mit den Säcken. Nach der Abreise findet sich Josefs Becher in Benjamins Sack. Alle Brüder müssen zurück in die Stadt, und Josef stellt sie zur Rede. Jetzt antwortet Juda als Sprecher der Brüder: “Gott hat die Schuld deiner Knechte gefunden.”

Wir müssen diese vielstimmig gewachsenen Szenen nicht bis in die Nüancen nachvollziehen. Das jüdische Empfinden für Gerechtigkeit kann bereits im Alten Testament sehr subtil sein und läßt das Geschehen in immer neuen Nachjustierungen die merkwürdigsten Haken schlagen. Soviel ist offenbar deutlich: daß schließlich die Sünde der Brüder als der Repräsentanten des Gottesvolkes als vollständig gesühnt gilt.

Dafür gibt es schließlich noch eine besonders spitzfindige, aber auch befreiende Lösung. Sie besteht darin, daß Gott die böse Absicht der Menschen zu seinen guten Zwecken gebraucht. Als Josef sich seinen Brüdern zu erkennen gibt: “Ich bin Josef, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt”, läßt ein Ergänzer ihn hinzufügen: “Und nun bekümmert euch nicht und denkt nicht, daß ich darum zürne, daß ihr mich hierher verkauft habt; denn um eures Lebens willen hat Gott mich vor euch hergesandt.” Der Weg Josefs nach Ägypten wird das Mittel zur Errettung des Gottesvolkes vor der Hungersnot.

Noch einmal wird das Thema aufgegriffen, als Jakob gestorben und begraben ist. Und hier zeigt sich, daß die Konflikte wirklich gelöst sind: “Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. Und sie gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes Statt? Was ihr gegen mich geplant habt zum Bösen, das plante Gott zum Guten.“

Die Aussage gilt mit Recht als der wichtigste Leseschlüssel der Josefsgeschichte. Die Lösung, die das Problem der Schuld hier gefunden hat, ist ebenso überraschend wie befreiend: Gott ist gerade darin gerecht, daß er sich nicht unter allen Umständen an die Handlungen der Menschen bindet. Er kann Böses zum Guten hinausführen. Die theologische Prämisse, daß Gott unter allen Umständen gerecht handelt, wird damit nicht außer Kraft gesetzt. Wohl aber ist Gott imstande, das Planen der Menschen gegen deren böse Absicht so zu lenken, daß seine strafende Gerechtigkeit ihren Anlaß verliert. Mit diesem hoffnungsvollen Ausblick wird nicht nur die Josefsgeschichte, sondern das Buch Genesis als ganzes beschlossen. Und das ist der rechte Moment, auch diesen Vortrag zu beschließen.